GEDICHTE -ZITATE UND POESIE VON JOACHIM RINGELNATZ

Joachim Ringelnatz

Joachim Ringelnatz (* 7. August 1883 in Wurzen; † 17. November 1934 in Berlin; eigentlich Hans Gustav Bötticher) war ein deutscher Schriftsteller, Kabarettist und Maler, der vor allem für humoristische Gedichte um die Kunstfigur Kuttel Daddeldu bekannt ist. Er war bekannt zur Zeit der Weimarer Republik und zählte Schauspieler wie Asta Nielsen und Paul Wegener zu seinen engen Freunden und Weggefährten. Sein teils skurril, expressionistisch, witzig und geistreich geprägtes Werk ist noch heute bekannt.



… gerade auf das Zugeben
Kommt’s an im Leben.


Humor ist der Knopf, der verhindert,
dass uns der Kragen platzt.


Wer das Licht der Welt erblickt,
wird das Dunkel schon noch kennen lernen.


Wenn ich tot bin,
darfst du gar nicht trauern.
Meine Liebe wird mich überdauern
und in fremden Kleidern dir begegnen
und dich segnen.


Ich liebe dich so sehr –
ich würde dir ohne Bedenken
eine Kachel aus meinem Ofen schenken.


Ein Rauch verweht,
ein Wasser verrinnt,
eine Zeit vergeht,
eine neue beginnt.


Schenke mit Geist,
ohne List.
Sei eingedenk,
dass dein Geschenk
du selber bist


Schenke herzlich und frei.
Schenke dabei, was in dir wohnt
an Meinung, Geschmack und Humor,
so dass die eigene Freude zuvor
dich reichlich belohnt.


Wenn Amtsgeheimnisse gelüftet werden,
gibt es Stunk.


Lebe, lache gut!
Mache deine Sache gut!


Hohe Türme sind nur Türmchen,
wenn ein Adlerauge sieht.


Einst waren wir reich und mächtig.
Jetzt sind wir niederträchtig.


TRAUERGEDICHT

Was dann?

WO WIRD ES BLEIBEN, WAS MIT DEM LETZTEN HAUCH ENTWEICHT? WIE WINDE WERDEN WIR TREIBEN – VIELLEICHT!? WERDEN WIR REINIGEND WEHEN? UND KENNEN JEDES MENSCHEN GESICHT. UND JEDER DARF DURCH UNS GEHEN, ERKENNT ABER UNS NICHT. WIR WERDEN DROHEN UND MAHNEN ALS STURM, UND LENKEN DIE WETTERFAHNEN AUF JEDEM TURM. ACH, SEHEN WIR DIE DANN WIEDER, DIE VOR UNS GESTORBEN SIND? WIR, DANN UNGREIFBARER WIND? RICHTEN WIR AUF UND NIEDER DIE ANDERN, DIE NACH UNS LEBEN? WIE WEIT WOHL GOTTES GNADE REICHT. UNS ALLES ZU VERGEBEN? VIELLEICHT? – VIELLEICHT!


Geburtstagsgedicht

ACH WIE SCHÖN, DASS DU GEBOREN BIST!

Ach wie schön, dass Du geboren bist! Gratuliere uns, dass wir Dich haben, dass wir Deines Herzens gute Gaben oft genießen dürfen ohne List. Deine Mängel, Deine Fehler sind gegen das gewogen harmlos klein. Heut nach vierzig Jahren wirst Du sein immer noch ein Geburtstagskind. Möchtest Du: nie lange traurig oder krank sein. Und nicht Hässliches erfahren. – Deinen Eltern sagen wir fröhlichen Dank dafür, dass sie Dich gebaren. Gott bewinke Dir alle Deine Schritte; Ja, das wünschen wir, Deine Freunde und darunter (bitte)

……………………………..

ICH WOLLTE DIR WAS DEZIDIEREN VON JOACHIM RINGELNATZ

 Ich wollte Dir was dezidieren, nein schenken; was nicht zuviel kostet. Aber was aus Blech ist, rostet, und die Messinggegenstände oxydieren. Und was kosten soll es eben doch. Denn aus Mühe mach ich extra noch Was hinzu, auch kleine Witze. Wär bei dem, was ich besitze, etwas Altertümliches dabei – doch was nützt Dir eine Lanzenspitze! An dem Bierkrug sind die beiden Löwenköpfe schon entzwei. Und den Buddha mag ich selber leiden. Und Du sammelst keine Schmetterlinge, die mein Freund aus China mitgebracht. Nein – das Sofa und so große Dinge kommen überhaupt nicht in Betracht. Außerdem gehören sie nicht mir. Ach, ich hab die ganze letzte Nacht rumgegrübelt, was ich Dir geben könnte. Schlief deshalb nur eine, allerhöchstens zwei von sieben Stunden, und zum Schluss hab ich doch nur dies kleine, lumpige verschlissne Ding gefunden. Aber gern hab‘ ich für Dich gewacht. Was ich nicht vermochte, tu Du’s: Drücke Du nun ein Auge zu und bedenke, dass ich Dir fünf Stunden Wache schenke. Lass mich auch in Zukunft nicht in Ruh.


GENAU BESEHN

Wenn man das zierlichste Näschen Von seiner liebsten Braut Durch ein Vergrößerungsgläschen Näher beschaut, Dann zeigen sich haarige Berge, Dass einem graut.


Weihnachtsgedichte

Vorfreude auf Weihnachten

EIN KIND – VON EINEM SCHIEFERTAFEL-SCHWÄMMCHEN UMHÜPFT – RENNT FROH DURCH MEIN GEMÜT. BALD IST ES WEIHNACHT! – WENN DER CHRISTBAUM BLÜHT, DANN BLÜHT ER FLÄMMCHEN. UND FLÄMMCHEN HEIZEN. UND DIE WÄRME STIMMT UNS MILD. – ES WERDEN LIEDER, DÜFTE FÄCHELN. – WER NICHT MEHR FLÄMMCHEN HAT, WEM NUR NOCH FÜNKCHEN GLIMMT, WIRD DANN DOCH GÜTIG LÄCHELN. WENN WIR IM TRAUME EINES EWIGEN TRAUMES ALLE UNFEINDLICH SIND – EINMAL IM JAHR! – UNS ALLE KINDER FÜHLEN EINES BAUMES. WIE ES SEIN SOLL, WIE’S ALLEN EINMAL WAR.


Sommerfrische

Zupf dir ein Wölkchen aus dem Wolkenweiß, Das durch den sonnigen Himmel schreitet. Und schmücke den Hut, der dich begleitet, Mit einem grünen Reis. Verstecke dich faul in die Fülle der Gräser. Weil’s wohltut, weil’s frommt. Und bist du ein Mundharmonikabläser Und hast eine bei dir, dann spiel, was dir kommt. Und lass deine Melodien lenken Von dem freigegebenen Wolkengezupf. Vergiss dich. Es soll dein Denken Nicht weiter reichen als ein Grashüpferhupf.


Freundschaftsgedichte

Das Herz laviert nicht von Joachim Ringelnatz

Ich nenne keine Freundschaft heiß, Die niemals, wenn’s ihr unbequem, Den Freund zu überraschen weiß Trotzdem. Denn wenn sie Zeit und Mühe scheut, Ein Unverhofft zu bringen, Das einen Freund unendlich freut, Dann hat sie keine Schwingen. Den Umfang einer Wolke misst Kein Mensch. Weil sie nicht rastet, Noch ihre Freiheit je vergisst. – Ich glaube: Keine Wolke ist Mit Arbeit überlastet. …………………………………. 

FREUNDSCHAFT

Erster Teil Es darf eine Freundschaft formell sein, Muss aber genau sein. Eine Freundschaft kann rau sein, Aber muss hell sein. Denn Allzusprödes versäumt oder verdirbt Viel. Weil manchmal der Partner ganz plötzlich stirbt. Mehr möchte ich nicht darüber sagen. Denn ich sitze im Speisewagen Und fühle mich aus Freundschaft wohl Bei »Gedämpfter Ochsenhüfte mit Wirsingkohl«. Zweiter Teil Die Liebe sei ewiger Durst. Darauf müsste die Freundschaft bedacht sein. Und, etwa wie Leberwurst, Immer neu anders gemacht sein. Damit man’s nicht überkriegt. Wer einmal den Kanal Überfliegt, Merkt: Der ist so und so breit. Und das ändert sich kaum In menschlein-absehbarer Zeit. Wohl aber kann man dies Zwischenraum Schneller oder kürzer durchqueren. Wie? Das muss die Freundschaft uns lehren. Ach, man sollte diesen allerhöchsten Schaft, Immer wieder einmal jünglingshaft Überschwänglich begießen. Eh‘ uns jener ausgeschlachtete Knochenmann dahinrafft.


Mode lebt und Leben modelt, so haben beide Sinn.


Versuchungen bekämpft man am besten mit Geldmangel und mit Rheumatismus.


Wer immer die Wahrheit sagt, wird kein Gedächtniskünstler.


Wer einmal den Kanal Überfliegt, Merkt: Der ist so und so breit. Und das ändert sich kaum In menschlein-absehbarer Zeit. Wohl aber kann man dies Zwischenraum Schneller oder kürzer durchqueren.


Die gerechte Entrüstung ist leider viel seltener als die ungerechte Rüstung.


Paßbilder sind die Rache des Fotografen.


Wenn du einen Schneck behauchst,
kriecht er ins Gehäuse,
wenn du ihn in Cognac tauchst,
sieht er weiße Mäuse.


Jeder spinnt auf seine Weise –
der eine laut, der andere leise.


Manche Leute sind wie Uhren. Wenn man sie aufzieht, gehen sie.


Im Knast denkt mancher: Gott sei Dank gibt es Feilchen, die im Verborgenen blühen.


Fäule, Feuchtigkeit oder feiner Humor
bringen immer wieder Leben hervor.


Was du als richtig empfunden, das sage und zeige. Oder schweige!


Sport stärkt Arme, Rumpf und Beine,
kürzt die öde Zeit,
und er schützt uns durch Vereine
vor der Einsamkeit.


Was wir haben
was wir hatten
was wir…
eines Morgens ist alles fort.


Geld soll man sich nur von Pessimisten borgen. Die erwarten sowieso nicht, daß sie es jemals wiederkriegen.


Werd ich vor’s Gästebuch gezerrt,
so denk ich mit Verdruß,
ich werde ins Klosett gesperrt,
obwohl ich gar nicht muß!


Die Leute sagen immer:
Die Zeiten werden schlimmer.
Die Zeiten bleiben immer.
Die Leute werden schlimmer.


Drüben im Walde
Kängt ein Guruh –
Warte nur balde
Kängurst auch du.


Ich warne euch, ihr Brüder Jahns,
vor jeder Form des Fußballwahns!


Heute dünn und morgen dick:
Das ist das weibliche Geschick.


Die Kindheit ist keine »Vorbereitungszeit«, sondern besitzt Eigenwert.


Die Badewanne prahlte sehr.
Sie hielt sich für das Mittelmeer
und ihre eine Seitenwand
für Helgoländer Küstenland.


Alles Zukunfterraten
ist wie gemalter Braten.


Morgens zwölfmal nur
nüchtern zwanzig Brockhausbände heben,
hei! das gibt den Muskeln die Natur!


Gewaltigen Erfolg erzielt,
Wer eine große Rolle spielt.
Im Leben spielt zum Beispiel so,
Ganz große Rolle: der Popo.


Schlechte Menschen ohne Geist,
ohne Geschmack,
Wenn sie noch so reich sind,
bleiben nur Pack.


Für die Mode, nicht dagegen
Sei der Mensch! – Denn sie erfreut.


Überall ist Ewigkeit.


Am Ende – sagen die Götter –
siegen doch die Spötter.


Das Geld ist wie ein krankes Kind –
man muß alles tun, um es durchzubringen.


Von allen Menschen das Begehrteste
Ist und bleibt: Der Allerwerteste.


Die Zeit entstellt
Alle Lebewesen.


Im Park

Ein ganz kleines Reh stand am ganz kleinen Baum
Still und verklärt wie im Traum.
Das war des Nachts elf Uhr zwei.
Und dann kam ich um vier
Morgens wieder vorbei,
Und da träumte noch immer das Tier.
Nun schlich ich mich leise – ich atmete kaum –
Gegen den Wind an den Baum,
Und gab dem Reh einen ganz kleinen Stips.
Und da war es aus Gips.


Auch die besessensten Vegetarier beißen nicht gern ins Gras.


Der Nachruf ist meistens besser als der Ruf.


Der Stein der Weisen sieht dem Stein der Narren zum Verwechseln ähnlich.


Ein Pflasterstein,
Der war einmal
Und wurde viel beschritten.
Er schrie: „Ich bin ein Mineral
Und muß mir ein für allemal
Dergleichen streng verbitten!“
Jedoch den Menschen fiel’s nicht ein,
Mit ihm sich zu befassen,
Denn Pflasterstein bleibt Pflasterstein
Und muß sich treten lassen.


Morgenwonne

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.

Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
Und gratuliert mir zum Baden.
Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
Betiteln mich „Euer Gnaden“.

Aus meiner tiefsten Seele zieht
Mit Nasenflügelbeben
Ein ungeheurer Appetit
Nach Frühstück und nach Leben.


Wer hat die Fragen aufgebracht?
Unsere Not.
Wer niemals fragte wäre tot.
Doch kommt’s drauf an, wie jemand lacht.


Arm Kräutchen

Ein Sauerampfer auf dem Damm
stand zwischen Bahngeleisen,
machte vor jedem D-Zug stramm,
sah viele Menschen reisen.

Und stand verstaubt und schluckte Qualm,
schwindsüchtig und verloren,
ein armes Kraut, ein schwacher Halm,
mit Augen, Herz und Ohren.

Sah Züge schwinden, Züge nahn.
Der arme Sauerampfer
sah Eisenbahn um Eisenbahn,
sah niemals einen Dampfer.


Es sind die harten Freunde, die uns schleifen.
sogar dem Unrecht lege Fragen vor.
Wer nimmer Fragt, merkt nicht, was er verlor,
Vom andern aus lerne die Welt begreifen.


Nach dem Gewitter

Der Blitz hat mich getroffen.
Mein stählerner, linker Manschettenknopf
Ist weggeschmolzen, und in meinem Kopf
Summt es, als wäre ich besoffen.

Der Doktor Berninger äußerte sich
Darüber sehr ungezogen:
Das mit dem Summen wär‘ typisch für mich,
Das mit dem Blitz wär‘ erlogen.


Wenn man das zierliche Näschen
von seiner lieben Braut
durch ein Vergrößerungsgläschen
näher beschaut,
dann zeigen sich haarige Berge,
daß einem graut.


Im Knast denkt mancher: Gott sei Dank gibt es Feilchen, die im Verborgenen blühen.


Am Himmel hoch erlosch im Licht ein Stern.


Ich warne euch, ihr Brüder Jahns,
vor dem Gebrauch des Fußballwahns.


Die schmerzhaftesten Wunden sind die Gewissensbisse.


Als wir noch in der Wiege lagen,
dacht‘ niemand an den Liegewagen.
Nun können wir im Wagen liegen
und uns in allen Lagen wiegen.


Der Stein

Ein kleines Steinchen rollte munter
Von einem hohen Berg herunter.

Und als es durch den Schnee so rollte,
Ward es viel größer als es wollte.

Da sprach der Stein mit stolzer Miene:
‚Jetzt bin ich eine Schneelawine‘.

Er riß im Rollen noch ein Haus
Und sieben große Bäume aus.

Dann rollte er ins Meer hinein,
Und dort versank der kleine Stein.


Wer hat zum Steuerbogenformular
den Text erfunden?
Ob der in jenen Stunden,
da er dies Wunderwirr gebar,
wohl ganz – oder total – war?


Die Feder

Ein Federchen flog über Land;
Ein Nilpferd schlummerte im Sand.

Die Feder sprach: „Ich will es wecken“;
Sie liebte, andere zu necken.

Aufs Nilpferd setzte sich die Feder
Und streichelte sein dickes Leder.

Das Nilpferd öffnete den Rachen
Und mußte ungeheuer lachen.


Das kleine Mädchen

Es war ein armes kleines Mädchen,
Das stickte nur mit kurzen Fädchen;

Ich glaube Lina war ihr Name.
Sie wurde eine schöne Dame,

War fleißig, brav und lernte gerne,
Da kam ein Prinz aus weiter Ferne.

Der sagte: „Liebe gute Lina,
Komm mit mir auf mein Schloß nach China.“

Dort sitzen sie nun alle beide
Auf einem Thron von gelber Seide.


An einem Teiche

An einem Teiche
Schlich eine Schleiche,
Eine Blindschleiche sogar.
Da trieb ein Etwas ans Ufer im Wind.
Die Schleiche sah nicht was es war,
Denn sie war blind.

Das dunkle Etwas aber war die Kindsleiche
Einer Blindschleiche.


Logik

Die Nacht war kalt und sternenklar,
da trieb im Meer bei Norderney
ein Suahelischnurrbarthaar –
die nächste Schiffsuhr wies auf drei.

Mir scheint da mancherlei nicht klar:
man fragt doch, wenn man Logik hat,
Was sucht ein Suahelihaar
denn nachts um drei am Kattegatt?


Großer Vogel

Die Nachtigall ward eingefangen,
Sang nimmer zwischen Käfigstangen.
Man drohte, kitzelte und lockte.
Gall sang nicht. Bis man die Verstockte
In tiefsten Keller ohne Licht
Einsperrte. – Unbelauscht, allein
Dort, ohne Angst vor Widerhall,
Sang sie
Nicht – -,
Starb ganz klein
Als Nachtigall.

——–

Nie bist du ohne Nebendir

Eine Wiese singt.
Dein Ohr klingt.
Eine Telefonstange rauscht.

Ob du im Bettchen liegst
Oder über Frankfurt fliegst,
Du bist überall gesehn und belauscht.

Gonokokken kieken.
Kleine Morcheln horcheln.
Poren sind nur Ohren.
Alle Bläschen blicken.

Was du verschweigst,
Was du andern nicht zeigst,
Was dein Mund spricht
Und deine Hand tut,
Es kommt alles ans Licht.
Sei ohnedies gut.


Ein Nagel saß in einem Stück Holz

Ein Nagel saß in einem Stück Holz.
Der war auf seine Gattin sehr stolz.
Die trug eine goldene Haube
Und war eine Messingschraube.

Sie war etwas locker und etwas verschraubt,
Sowohl in der Liebe, als auch überhaupt.
Sie liebte ein Häkchen und traf sich mit ihm
In einem Astloch. Sie wurden intim.

Kurz, eines Tages entfernten sie sich
Und ließen den armen Nagel im Stich.
Der arme Nagel bog sich vor Schmerz.
Noch niemals hatte sein eisernes Herz
So bittere Leiden gekostet.

Bald war er beinah verrostet.
Da aber kehrte sein früheres Glück,
Die alte Schraube, wieder zurück.
Sie glänzte übers ganze Gesicht.
Ja, alte Liebe, die rostet nicht!


Ein männlicher Briefmark erlebte

Ein männlicher Briefmark erlebte
Was Schönes, bevor er klebte.
Er war von einer Prinzessin beleckt.
Da war die Liebe in ihm erweckt.

Er wollte sie wiederküssen,
Da hat er verreisen müssen.
So liebte er sie vergebens.
Das ist die Tragik des Lebens!


Bist du schon auf der Sonne gewesen?

Bist du schon auf der Sonne gewesen?
Nein? – Dann brich dir aus einem Besen
Ein kleines Stück Spazierstock heraus
Und schleiche dich heimlich aus dem Haus
Und wandere langsam in aller Ruh
Immer direkt auf die Sonne zu.

So lange, bis es ganz dunkel geworden.
Dann öffne leise dein Taschenmesser,
Damit dich keine Mörder ermorden.
Und wenn du die Sonne nicht mehr erreichst,
Dann ist es fürs erstemal schon besser,
Daß du dich wieder nach Hause schleichst.


Die neuen Fernen

In der Stratosphäre,
Links vom Eingang, führt ein Gang
(Wenn er nicht verschüttet wäre)
Sieben Kilometer lang
Bis ins Ungefähre.

Dort erkennt man weit und breit
Nichts. Denn dort herrscht Dunkelheit.
Wenn man da die Augen schließt
Und sich langsam selbst erschießt,

Dann erinnert man sich gern
An den deutschen Abendstern.


Lampe und Spiegel

„Sie faule, verbummelte Schlampe!“
sagte der Spiegel zur Lampe.
„Sie altes, schmieriges Scherbenstück!“
gab die Lampe dem Spiegel zurück.

Der Spiegel in seiner Erbitterung
bekam einen ganz gewaltigen Sprung.
Der zornigen Lampe verging die Puste:
Sie fauchte, rauchte, schwelte und ruste.

Das Stubenmädchen ließ beide in Ruhe
und doch – man schob ihr die Schuld in die Schuhe.


Ohrwurm und Taube

Der Ohrwurm mochte die Taube nicht leiden.
Sie haßte den Ohrwurm ebenso.
Da trafen sich eines Tages die beiden
in einer Straßenbahn irgendwo.

Sie schüttelten sich erfreut die Hände
und lächelten liebenswürdig dabei
und sagten einander ganze Bände
von übertriebener Schmeichelei.

Doch beide wünschten sie sich im stillen,
der andre möge zum Teufel gehn,
und da es geschah nach ihrem Willen,
so gab es beim Teufel ein Wiedersehn.


Vorbei ist das Fasten

Kameraden, vorbei ist das Fasten,
Ich sehe den Leuchtturm durchs Glas.
Schon flattern um unsere Masten
Die Möwen. Im Wasser schwimmt Gras.

Schon steigen die Türme vom Hafen
Wie Kräuterkäse grün aus dem Grau.
Old sailorboys, heute nacht schlafen
Wir alle an Land bei der Frau.

Vielleicht tanzen wir heute
Und saufen soviel uns behagt.
Wir haben als Fahrensleute
Solang dem Vergnügen entsagt.


Überall

Überall ist Wunderland
Überall ist Leben
Bei meiner Tante im Strumpfenband
wie irgendwo daneben.
Überall ist Dunkelheit
Kinder werden Väter.
Fünf Minuten später
stirbt sich was für einige Zeit.
Überall ist Ewigkeit.


Der sächsische Dialekt

Wenn man den sächsischen Dialekt
Ein bisschen dehnt und ein bisschen streckt
Und spricht ihn noch ein bisschen tran’ger;
Dann hält ein jeder für einen Spanier!


Kopf ist nicht alles.
Auch der Kohl hat einen Kopf.


Wenn ich tot bin,
darfst du gar nicht trauern.
Meine Liebe wird mich überdauern
und in fremden Kleidern dir begegnen
und dich segnen.


Wenn alle Stricke reissen –
dann hänge ich mich auf!


Die Stunden, nicht die Tage,
sind die Stützpunkte unserer Erinnerung


Dramatiker und Rausschmeißer träumen immer von einem großen Wurf.

Rückblick

Ich sehe hinter dem Grau heute Blau,
Und ich bin milder geworden.
Ich bin nicht mehr der junge Radau
Und wehe nicht mehr aus Norden.

Es kommen die Jüngsten auch mal dahin,
Wenn sie streng Zauderndes wagen
Und fragen nach jedem »Wie ist …?« dann: »Wie bin …?«
Und werden still Danke sagen.
Joachim Ringelnatz